One night – Tanz die ganze Nacht mit mir
Frustriert stecke ich mein Smartphone zurück in die Handtasche. Keine meiner Freundinnen hat Zeit, um sich mit mir auf einen Cocktail zu treffen. Dabei bräuchte ich dringend jemanden zum Reden. Die Woche war schrecklich. Zuerst der pure Stress in der Arbeit und dann habe ich mich mit meinem Freund gestritten. In letzter Zeit streiten wir immer öfter, meist wegen Kleinigkeiten. Deprimiert schließe ich kurz die Augen. Ich weiß nicht, was los ist. Früher waren wir so verliebt und glücklich. Brauchen wir Abstand? War es ein Fehler schon nach wenigen Monaten zusammenzuziehen?
Ich schüttle den Kopf, um das Gedankenkarussell anzuhalten, das sich unaufhörlich dreht. Nein, es hilft nichts, sich Gedanken darüber zu machen. Wir sollten uns zusammensetzen und reden. Aber nicht heute Nacht. Kurz überlege ich und knabbere auf meiner Unterlippe herum. Insgeheim weiß ich, was mich wieder ins Gleichgewicht bringt: Ein Besuch in einem angesagten Club. Heiße Beats. Stundenlanges Tanzen.
Kurze Zeit später betrete ich die einladende, von Nebel durchzogene Dunkelheit und gehe zum unteren Floor. Ich dränge mich durch die Menge und mein Körper findet sogleich den richtigen Rhythmus. Während ich mich im Takt der Musik wiege, vergesse ich die Welt um mich herum.
Unvermittelt läuft mir ein Prickeln über den Rücken. Ich drehe mich um und sehe ihn. Obwohl wir von hunderten Menschen umgeben sind, habe ich nur mehr Augen für diesen einen Mann. An seiner Haltung erkenne ich, dass er nur mich anstarrt. Die Zeit scheint still zu stehen, dann bewegt sich alles in Zeitlupe, als er langsam auf mich zukommt. Rund um mich ist augenblicklich alles wie erstarrt, ich höre die Musik nicht mehr. Nur das Wummern des Basses pulsiert in meinen Adern. Er kommt näher, wie ein Raubtier, das sein Opfer ins Visier nimmt. Er will nur mich, das sehe ich in seinen Augen und an der Art, wie er auf mich zuschreitet.
Die Menschen rund um uns bemerken es nicht. Sie tanzen, als sei die Welt unverändert. Er steht vor mir und berührt mit seiner Hand sanft meine Schulter. Die zärtliche Berührung löst einen wohligen Schauer in mir aus. Hitze durchflutet mich. Es fühlt sich richtig an. Die Musik wird wieder lauter und die Menge drängt uns dichter zueinander. Ich spüre seine heiße Haut an meinen Körper und im Einklang mit dem wilden Bass presse ich mich an ihn. Besitzergreifend schlingt er seine Arme um mich, wir bewegen uns und vergessen die Menschen um uns herum.
Stunden später laufen wir nach draußen. Die Nacht ist mild, dennoch fühlt sich die Luft kühl auf meiner verschwitzten Haut an. Hand in Hand gehen wir zur nächsten U-Bahn-Station. Wir setzen uns in den Wagen. Um diese Zeit sind die Züge fast leer. Ich lege den Kopf an seine Schulter. Seine Finger streicheln spielerisch über mein Knie. Flüchtig überlege ich, ob es klug war, mit ihm den Club zu verlassen. Quälend langsam wandern seine Fingerspitzen nach oben und verharren am Saum meines kurzen Rocks. Ich atme zischend ein. Ja, ich will mit ihm gehen.
An der nächsten Haltestelle steigen wir aus und ich lasse mich von ihm durch die leeren Straßen führen. Minuten später stehen wir vor der Wohnungstür. Er öffnet sie und ich trete ein. Mit einem Krachen fällt sie ins Schloss und er drückt mich gegen die Tür. Gierig presst er seine Lippen auf meinen Mund.
„Wärst du heute zu mir heimgekommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte?“
Ich stöhne frustriert auf, ich will nicht an den Streit denken: „Lass uns morgen darüber reden!“
„Hättest du mich verlassen?“ Er umfasst mein Kinn und ich hebe den Kopf, um ihm direkt in die Augen zu blicken.
„Nein“, flüstere ich leise und schüttle den Kopf.
Dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. „Und wenn tausend Männer in dem Club gewesen wären, ich wäre nur mit dir mitgegangen.“
Text: Marina Prokopp, 2022
Foto: Lukas Bato
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